9. Mitteldeutsche Konferenz für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte

9. Mitteldeutsche Konferenz für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte

Organisatoren
Florian Bruns, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Martin- Luther-Universität Halle-Wittenberg (Direktor: Jan Schildmann)
Ort
Halle/Saale
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.09.2021 - 29.09.2021
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Von
Philipp Karschuck, Klinik und Poliklinik für Urologie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Technische Universität Dresden

Die im Präsenzformat organisierte Tagung widmete sich der Leitfrage, wie die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen aus der Perspektive der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte gedeutet werden können. Dazu wurden ein Keynote-Vortrag und sieben thematisch relevante Forschungsprojekte mit Bezug zur Seuchengeschichte, epochal übergreifend von der Antike bis zur Zeitgeschichte, vor- und zur Diskussion gestellt.

In ihrer Keynote drückte NADINE METZGER (Erlangen) zu Beginn die Erwartung aus, dass die Erfahrung der Corona-Pandemie die künftige Beschäftigung mit der Seuchengeschichte stark prägen wird. Auch wies sie auf das gestiegene Medieninteresse an der Medizingeschichte sowie einige jüngst erschienene Fachpublikationen zur Geschichte der Seuchen hin. Anhand historischer Bezüge zu antiken Seuchenkonzepten betonte sie, dass die Bewertung der Pandemie stark zu Ungunsten einer methodenkritischen Perspektive ausfalle, etwa bei der Seuchengeschichte vorbakteriologischer Epochen. Seuchen seien vielfältig und passten meist nicht in das Covid-Muster. Bei der Definition des Begriffs „Seuche“ überwiege die gegenwärtige Idee der Infektionskrankheiten, eigentlich sei der Begriff jedoch offen und nicht zwingend bakteriologisch geprägt. Das derzeitige Erkenntnisinteresse gehe vom heutigen medizinischen Verständnis aus und passe mit dem historischen Kontext oft wenig zusammen. Als Themen antiker Seuchengeschichte akzentuierte Metzger erstens die „Epidemien“ im Corpus Hippokraticum, zweitens Seuchenkonzepte, drittens den Ansteckungsgedanken, viertens die Pest als göttliche Strafe und fünftens wichtige Epidemien wie etwa die Attische, die Antoninische und die Justinianische Pest. Besonders Letztere werde im jüngsten Forschungskontext überproportional häufig dargestellt und für Vergleiche mit der Corona-Pandemie herangezogen. Metzger plädierte dafür, ein breites Seuchenkonzept zur Grundlage der Forschung zu machen, das den Kontext der jeweiligen Epoche einbezieht und keine verengte Interpretation aus Perspektive der Gegenwart vornimmt. Anhand zweier Quellen aus der Antike (Victor von Tunnuna, ca. 507, und Johannes von Ephesus, ca. 560) verdeutlichte sie die Tatsache, dass antike Seuchendarstellungen nicht immer das beschreiben, was heutzutage als Seuche gelte.

JOHANNA LESSING (Göttingen) stellte Ergebnisse ihres Dissertationsprojektes vor, das im Rahmen des von der Volkswagen-Stiftung geförderten Graduiertenkollegs „Wissen | Ausstellen“ entsteht. Während des Praxisjahres kuratierte Lessing zusammen mit Greta Butuci die Sonderausstellung „Die Ingolstädter Maskentonne. Eine Corona-Ausstellung mit medizinhistorischen Bezügen“ (10.12.2020 – 16.5.2021). Gegenstand der Ausstellung war eine Maskentonne, über die Ingolstädter Bürger:innen selbstgenähte Atemschutzmasken für Bedürftige – während des ersten Lockdowns eine wesentliche Strategie der Pandemiebekämpfung – spenden konnten. Herausfordernd sei gewesen, dass sich das vorhandene Wissen zum Ausstellungsthema täglich aktualisiert habe. Andererseits konnte die sich selbst überholende Historizität der Pandemie für das kuratorische Konzept (Vorläufigkeit als Prinzip) zur Umsetzung der Ausstellung genutzt werden. Lessing widmete sich der Frage, wie die Pandemie Arbeitsweise und Auftrag von Museen verändert hat. Zusammenfassend sei die Pandemie erstens aktiver Mitspieler in Ausstellung und Museumsarbeit, nicht nur, aber insbesondere in der Medizingeschichte. Zweitens sei die Ausstellung als Zwischenstand zu verstehen; die Vorläufigkeit führe zu Flexibilität und Freiheit in der kuratorischen Arbeit.

Der Historiker und Archivar HARALD JENNER (Berlin) beleuchtete mit der Russischen Grippe von 1889 bis 1894 eine weitgehend unbekannte Pandemie. Sie sei zuerst in Usbekistan ausgebrochen und habe sich entlang der Verkehrswege über den Ural bis nach London ausgebreitet. Die Russische Grippe sei die erste weltweite Epidemie gewesen, die wissenschaftlich und medial begleitet wurde. Dies verdeutlichte Jenner anhand von Zeitungsberichten aus den Metropolen der Welt (z.B. Glasgow Herald) und zeitgenössischen wissenschaftlichen Artikeln. Über die Verbreitung lassen sich laut Jenner nicht nur der Verlauf der Pandemie, die Europa in mehreren Wellen getroffen hat, sondern auch die Reaktionen in Politik und Öffentlichkeit nachzeichnen. Durch die Entdeckung eines vermeintlichen Erregers habe die Pandemie als wissenschaftlich geklärt gegolten, ohne dass daraus Therapieangebote entwickelt oder -erfolge erzielt worden seien. Die wissenschaftliche Begleitung habe sich im Unterschied zur Corona-Pandemie in Beobachtungen und Statistiken erschöpft. Daneben konnte Jenner deutliche Parallelen in der Berichterstattung, im Labeling und Wording zwischen der Russischen Grippe des 19. Jahrhunderts und der heutigen Pandemie aufzeigen.

Der Arzt und Historiker FLORIAN BRUNS (Halle) widmete sich der historischen Analyse der Triage und hob definitorische Unschärfen sowie eine uneindeutige Verwendung und Abgrenzung des Begriffs hervor. Der Begriff „Triage“ gehe auf den französischen Feldarzt und Chirurgen Dominique Jean Larrey (1766–1842) zurück, der die Versorgung von Schwerstverwundeten gegenüber leicht Verwundeten priorisiert habe. Der russische Chirurg Nikolai Iwanowitsch Pirogow (1810–1881) habe das Konzept der Krankenzerstreuung eingeführt, das auf die optimale Verteilung und Versorgung sowie den adäquaten Transport von Kriegsverwundeten abzielte. Bruns führte aus, dass der Triagebegriff in der zivilen Medizin bis in die 1950er-Jahre fehlte und erst u.a. aus Sorge vor einer drohenden nuklearen Auseinandersetzung in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung rückte. Einen Bedeutungszuwachs erfuhr das Konzept auch durch die Professionalisierung der Notfallmedizin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Klinischen Wörterbuch Pschyrembel tauchte der Begriff erstmals in der Auflage von 1982 auf.

Der Historiker FRITZ DROSS (Erlangen) widmete sich der Sozialgeschichte der Pestflucht des 16. Jahrhunderts. Im Zentrum des Vortrags stand Martin Luthers Druckschrift „Ob man für dem sterben fliehen möge" (1527). Im Jahr 1527 habe die Pest Wittenberg erreicht, und dies habe zu einer Debatte darüber geführt, ob die Flucht zur „guten Luft“ sinnvoll oder „sündvoll“ und ob die Pest „als gottgebenes Leid“ zu akzeptieren sei. Entscheidend bei Luther sei die Abkehr von der individuellen Betrachtung von „Sünde / gutem Werk“, die in dieser Form theologisch im Protestantismus nicht mehr abgebildet werden konnte. Betonung fand hingegen die gegenseitige Verantwortung füreinander, was bedeutet habe, dass sich Verantwortungsträger wie Seelsorger und Amtspersonen mit einer Flucht der Verantwortung entzogen. Damit verbunden sei aber auch der Aspekt der Ansteckung gewesen, der das neue Schreckgespenst einer Person hervorgebracht habe, die – ohne erkennbar erkrankt zu sein – ihre Umgebung gegebenenfalls auch vorsätzlich in Gefahr bringe, was Luther „Meuchelmord" nannte.

ANNE THORDIS WANKE (Halle), Studentin der Humanmedizin im klinischen Abschnitt, stellte erste Ergebnisse ihrer Forschungen zur Poliomyelitis-Impfkampagne in der DDR vor. In den 1950er-Jahren galt die spinale Kinderlähmung, nicht nur in der DDR, als „Schrecken der Mütter“. Nach einer ersten Epidemiewelle 1953 mit Schwerpunkt in Leipzig habe sich der seit 1958 verwendete Impfstoff des US-Immunologen Jonas Salk (1914–1995) nicht durchgesetzt. Erst die Einführung der oralen Schluckimpfung nach Sabin-Tschumakow im Jahr 1960 habe zur nachhaltigen Eindämmung der Krankheit geführt. Die Umsetzung der Impfaktion sei durch eine enge Kooperation des staatlichen Gesundheitssystems mit Universitäten, Bildungs- und Unterbringungseinrichtungen, freiwilligen Helfern sowie durch Aufklärungskampagnen für die Bevölkerung gelungen. Im Stadtkreis Halle/Saale habe die Immunisierungsquote in der relevanten Bevölkerungsgruppe bei über 80 Prozent gelegen. Die Struktur des staatlichen Gesundheitswesens sowie der politische Wille zur Durchimpfung der Risikogruppen haben, so Wanke, zum Erfolg der ostdeutschen Impfkampagne gegen Polio beigetragen.

JASMIN HETTINGER (Leipzig) stellte erste Arbeitshypothesen für ein Forschungsprojekt vor, in dem der Zusammenhang zwischen der Bewirtschaftung antiker Feuchtgebiete und dem Malariarisiko in Mittelitalien untersucht werden soll. In der ersten Projektphase möchte Hettinger anhand antiker Quellen die Aspekte Klima, Landschaftswandel sowie Demographie und Immunitäten bearbeiten. Die zweite Projektphase soll sich den Themen Resilienz und Vorsorgepraktiken widmen. Ausgangspunkt sind die Untersuchungen von Robert Sallares („Malaria and Rome: A History of Malaria in Ancient Italy“, Oxford University Press 2002), der u.a. postulierte, dass die Drainage von Feuchtgebieten für die massive Ausbreitung der Malaria gesorgt habe und landwirtschaftliche Flächen in den verseuchten Gebieten hauptsächlich von Sklaven bewirtschaftet worden seien. Mit Bezug auf zeitgenössische Quellen verwies Hettinger auf die Tatsache, dass das Wechselfieber ein Alltagsphänomen der antiken Welt gewesen sei (Plinius Naturalis Historia 7, 170, Teil 1). Zudem gebe es Hinweise auf Teilresistenzen unter Ortsansässigen, evtl. gegen Malaria (Plinius Naturalis Historia 18,27). Hettinger möchte außerdem herausfinden, ob die Wiedervernässung in der Spätantike die Ausbreitung der Malaria verursacht haben könnte.

DIETER SCHWARTZE (Petersberg) würdigte Leben und Werk des Internisten Franz Volhard (1872–1950), dessen Geburtstag sich 2022 zum 150. Mal jährt. Volhard, der von 1918 bis 1927 die I. Medizinische Klinik an der Universität Halle-Wittenberg leitete und dann einem Ruf nach Frankfurt am Main folgte, habe sich besonders um die Erforschung der Herz-Kreislauf-Krankheiten verdient gemacht. Neben mechanokardiografischen Studien zur Vitiendiagnostik und Genese von Arrhythmien habe der Bluthochdruck im Zentrum seiner Arbeiten gestanden. Im Rahmen der körperlichen Untersuchung der Patienten maß Volhard der heute weitgehend verlassenen Palpation des Herzens große Bedeutung bei.

Abschließend fasste Florian Bruns das heterogene Gesamtbild aller Vorträge zu den Themen Pandemien und Seuchengeschichte zusammen. Mit Blick auf die Historisierung der Corona-Pandemie plädierte er dafür, diese Ausnahmesituation als Herausforderung und Chance für eine Geschichtsschreibung in Echtzeit zu begreifen. Die Medizinhistoriografie werde so intensiv wie selten zuvor im medialen Diskurs wahrgenommen und befragt. Mit seiner Expertise besitze das Fach zugleich eine Verantwortung, an diesem Diskurs teilzunehmen und die interessierte Öffentlichkeit am verfügbaren seuchen- und sozialhistorischen Fachwissen teilhaben zu lassen.

Konferenzübersicht:

Nadine Metzger (Erlangen): Von Covid-19 zur hippokratischen Epidemie. Disparate Seuchenkonzepte von Antike und Gegenwart

Johanna Lessing (Göttingen): Zur Produktivität vorläufigen Wissens. Pandemie und medizinhistorisches Ausstellen

Harald Jenner (Berlin): Grippe oder Corona? Die Russische Grippe 1889 bis 1894

Florian Bruns (Halle): Zur Geschichte der Triage in der Notfallmedizin

Fritz Dross (Erlangen): „Ob man für dem sterben fliehen möge“. Martin Luther, die Wittenberger Pest 1527 und die Erfindung der Sozialethik

Anne Thordis Wanke (Halle): Historische Erfahrungen in der Epidemie-Bekämpfung: Die Impfaktion gegen Poliomyelitis in der Stadt Halle im Jahr 1960

Jasmin Hettinger (Leipzig): Sklavenarbeit und (Teil-)Resistenzen gegen Malaria im antiken Mittelitalien?

Dieter Schwartze (Petersberg): Erinnerung an Franz Volhard (1872–1950) als „Herzarzt“


Redaktion
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